Notizen über Berlin
Notizen über Berlin
Grau ist dunkler als Schwarz. Berlin kennt nur zwei Jahreszeiten. Einen heißen, dünnen Sommer, in dem die Wiesen in den Stadtparks durchgesessen werden, und einen Winter, der sich ärgert, Herbst geblieben zu sein. Für diesen Ärger rächt er sich durch Länge. Der Frühling, wenn er kommt, hilft wenig. Er ist zu kurz für eine Jahreszeit und ähnelt diesem Stich, den wir empfinden, wenn uns der Augenblick entwischt, zurückzulächeln.
„Wallah, c‘est la vie, Digga.“ Dreisprachigkeit, U7, Neukölln.
Berlin, deine Winde. Zunächst sind sie ganz wie der Regen. Sie blasen fad und ohne Plan und Leidenschaft und doch so lange, bis man ins Grau hinein verzweifelt. Dann wehen sie, um uns noch lästiger zu werden, von wirklich überall her, aus ganz unmöglichen Orten. Und dauern und brechen uns seelisch die Knie. Da wäre zum Beispiel der oft von Osten wehende Wind auf der Straße des 17. Juni, wo doch das restliche Wetter aus Nordwesten kommt. Da wäre an der Ecke Dorotheen- und Charlottenstraße dieses harte, panische Flattern, das immer da ist, auch bei Stille der umliegenden Stadt. Berlin ist wie in Zugluft gebaut oder ganz um Winde herum. Mauern helfen nichts. Einmal bin ich in einen hohen, komplett umschlossenen Hof gelaufen. Da habe ich mich in einen Winkel gestellt, weit hinten, wie jemand, der sich schämt. Der Wind kam direkt aus der Wand.
Raben sind das wahre Wappentier der Stadt. Der Bär war immer eine Lüge.
Berlin ist Modestadt und trägt zwei Label. Das erste lautet „Doch-wie-ich-ausseh-ist-mir-wirklich-scheißegal“. Grauübergroße Jacken, die klar zu kurzen Hosen, hastige Dutte über achtlosem Gehen, Neunziger-Pink, Blaulila an Schwarz an Grau, Tattos unter Musterstrumpfhosen in Söckchen im Fitnessschuh. Parole: „Pah!“ – Das zweite Label lautet: „Ich-drücke-mich-ganz-individuell-in-meiner-Mode-aus“. Es ist von größter Achtsamkeit geprägt und im Stil mit dem ersten identisch. Die kleinen, knuffigen Läden in Kreuz- und Prenzlauerberg sind voll mit diesen Uniformen, in denen man herzeigt, sich von allen Uniformen befreit zu haben.
Kenner:innen, heißt es, können den Berliner vom Leipziger Dutt unterscheiden an der Gewolltheit seines Egals.
Ausblick. Im Zug, kurz hinter dem Hauptbahnhof. Eine Mutter will ihr Kind ans Fenster ziehen: „Aber jetzt schau doch mal!“. — Nichts zu machen. „Weil, Berlin“, sagt das Kind und dreht sich hart in den Wagen, „da will ich nicht rausschauen.“
oben wohnen die kräne.
unten ruhen seghers, hegel und brecht.
am stillsten aber ruhen
hinter warnleitkegeln,
hinter absperrbändern,
neben wegbreiten containeranlagen
auf schaufeln gestützt wie kenner
um ein vor wochen
gegrabenes loch
zahlreich
bauarbeiter.
Nordwilmersdorf. „Caspar!“, „Louis!“, „Emil!“, „Theo!“ – Bevor ich nachsehe, wette ich leise, ob ein Kind oder ein Zierhund reagiert. Und verliere.
„Ich bin ein Berliner.“ Das war schon damals ein Drohung. Wenn ein New Yorker Patrizier das sagen darf, kann wirklich jede:r Berliner:in sein. Kennedy war nur die Vorhut all der Expats, die nach sieben Jahren Weserstraße kein Wort Deutsch beherrschen bis auf „Geschlechtsverkehr“, mit dem sie sich belustigen, als wären England und die Staaten berühmt für ihren Sex.
Heine. „Berlin ist gar keine Stadt, sondern Berlin gibt bloß den Ort dazu her, wo sich eine Menge Menschen versammeln, denen der Ort ganz gleichgültig ist.“ Reisebilder
Offenheit. Berlin ist die Fremde, die einlädt, das Eigene zu sein. Ob queer, ob cis, ob links, rechts, oben, unten – alles manspreadet Identität. Die Suche danach wird als Ergebnis präsentiert. Hier teilen wir alle die Verwirrung, ob das Glück, ganz man selbst zu sein, am Anfang oder am Ende eines Prozesses steht.
Regierungsviertel, Hauptbahnhof. Wie werde ich den Eindruck los, der doch nicht stimmen kann, Berlin verbetoniere Riesenflächen, um zu betonen, dass es im Grunde nichts zu sehen gibt? Wie kann ich das zusammendenken mit der allgegenwärtigen, ganz sicher angeordneten Schießscharten-Architektur (Grimm, BND, Potsdamer Platz), die zu behaupten scheint, hier sei irgendetwas unbedingt zu verteidigen?
Erinnerung an die ersten Tage. Seitdem auf allem „preußisch“ steht, verändert es die Farbe. Auch wird es leichter, härter. Mit hagerem Stolz öffne ich einen Spind aus preußischem Kulturbesitz, stehe in einem Lichthof mit den Fingern an den Nähten.
Schuld. Berlin gibt wenig Anlass, nach oben zu schauen. Der Fernsehturm, trotz allem seltsam weiblich, ist eine Schäferin für eine flache Stadt. Wo die Häuser doch einmal höher geraten, entschuldigen sie sich durch Hässlichkeit. Am besten übersieht man Berlin vom Drachenberg aus. Der ist im Westen und aus Kriegsschutt errichtet, damit man die Stadt besser versteht.
Haiku
Alle wollen nach
Berlin. Was sagt das über
andere Städte?
Vorteil. Man braucht keinen Farbfilm in Berlin.
Ich bin der Jochen. Die Bettler in der Bahn sind Spezialisten, ihre Auftritte abgestimmt auf alle Arten, gleichgültig zu sein. Sie wissen, dass sie stören und stellen sich taktvoll vor („Bitte nicht erschrecken.“). Sie betonen, in diesen schweren Tagen nur „zurzeit“ in Not geraten zu sein. Sie nähmen – unter Angabe der Mittelverwendung („Schlafplatz“) und den Abstand zum Zahlungsziel („nur noch drei Euro fünfzig“) – „kleine Spenden“ von uns an und gern auch unsere alte Banane. Dann bedanken sie sich ohne offene Enttäuschung und manchmal mit dem menschlich schönsten Satz des Tages, der die beschämt, die nichts gegeben haben, und der es ihren Nachfolgern leichter macht. „Habt eine gute Fahrt. Lasst euch nicht ärgern. Alles Gute.“
Bild: Eduard Manet, The Raven, 1875
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