Tourismus, Erfahrung, Fotografie
Tourismus, Erfahrung, Fotografie
Widerstand. Wir beklagen den Tourismus, um uns zu überzeugen, kein Teil von ihm zu sein.
Monolog im Zug. Eine Studentin zu einer Zufallsbekanntschaft: „Ich möchte so viele Länder wie möglich sehen. Aber ich möchte auch etwas aufbauen hier. Die beiden Wünsche ersticken einander. Und dann macht mir Angst, wirklich Angst, dass ich nicht mehr erleben werde, was nach meinem Tod passiert.“ – Wo früher vielleicht Fernweh war, ist heute FOMO bis ins Grab.
Schrödingerkatzen. Wer immer auf dem Sprung ist, kann glauben, überall zu sein. Wir sind anwesend und abwesend zugleich. Tourismus ist daher schizo-mobil. Kein Wunder, dass wir an den schönen Orten unsere Mittouristen oft nur fragen, wie sie dort hingekommen und was ihre Reisepläne sind.
Leicht zu haben. Der Sonnenuntergang ist der Big Mac des Erlebens.
Huiii! Als Touristen bezahlen wir dafür, keine Erfahrungen zu machen. Wir wollen das glatte, kurze, leicht kitzelige Durchrutschen der Augenblicke durch unsere Bewusstseinstunnel, so wie wir glatt und kurz und manchmal kitzelig durch unsere Lebenstunnel huschen.
„Steht doch draußen dran.“ Ob wir auf Reisen wirklich etwas erfahren, bemerken wir oft erst daheim, an Widersprüchen: Zum Beispiel an unserer Dankbarkeit, in Deutschland so wenig erfragen zu müssen, weil alles ausgeschildert ist. Und am Bedauern, daheim so wenig erfragen zu können, ohne vom Busfahrer angebellt zu werden, ob man nicht lesen kann.
Schilderwald. Vielleicht reist ja jemand nach Deutschland, um zu sehen, wie gut alles ausgeschildert ist und wie putzig wir in unseren Regeln hocken.
Schnittmenge. Der Urlauber will sich erholen. Der Tourist will etwas erleben. Beide Bedürfnisse verbinden sich im Wissen, wie vor Ort ein Straußensteak schmeckt.
„Great view.“ Was sehen wir hier eigentlich, das über den Werbecharakter der Wörter hinausgeht? Was fühlen wir außer ein fast angenehmes Schulterzucken?
Bekömmlichkeit = wir bekommen, was wir erwarten. Eine Reiseleiterin auf einer Promenade auf Prochida: „Der Blick wird gleich noch viel schöner, wenn wenn das Postkartenpanorama sehen.“
Bangkog. Amerikanische Touristen vor einem Buddha:
How old is it, 200 years?
– 400 years.
Incredible!
Betreutes Erleben. Die Animateure, zum Beispiel auf einem Kreuzfahrtschiff, offenbaren, dass es nichts zu erleben gibt. Im Grunde sind sie Reanimateure.
Machu Piccu. Mit Stolz: „Sie haben uns die weniger touristische Route hinaufgeführt.“ – Dass man weniger Touristen sieht, scheint zu bedeuten, dass man weniger touristisch sieht.
Selbsterfahrung. Was Touristen vor allem erleben, ist Tourismus.
Klimakatastrophe. Aber wie schwer es fällt, sich in Flip-Flops Sorgen zu machen.
Stubengeruch. Tourismus mischt ästhetisches mit ethischem Versagen. Wir blättern mit schlechter Laune im Menu, als wäre es kein Privileg, eins zu haben. Wir tragen Badelatschen von Lagerfeld und zum Kind ein Gummikrokodil. Wir brüllen wie die Stiere durch die Stadt. — Im Grunde sind wir zuhause geblieben, die Linke tief in der seelischen Jogginghose und die Rechte liegt auch nur herum.
Haltungssache. Überhaupt, wie wir herumlaufen! Als wären wir unzufrieden, Körper zu haben. Oder tritt in der Urlaubsentspannung nur das Ruhegesicht unseres restlichen Lebens hervor?
Grüß mir die Sonne. Wir stellen uns Hybris ja als Verfehlung von Helden vor. Aber das einzige, was einen Ikarus verbindet mit uns blassen, schlurfenden Zwergen, die Jumbojets bewegen und Kreuzfahrtschiffe und Städte entkernen, um an die Sights zu gelangen, ist Sonnenbrand.
Alte Liebe. Wir bewundern die Pyramiden und die starken Knie der Kamele, aber keine Sekunde das Flugzeug, das uns wie der Märchenteppich ins Morgenland trägt. Dass wir über den Wolken unser Essen nachsalzen können, ohne Erfurcht oder Bestürzung oder Scham, ist Wahnsinn.
Hindernisse. „Der Humanismus wäre so schön, wenn nur die Menschen nicht wären!“ — Die Gegenwart von Mittouristen zu beklagen, ist das Merkmal des Tourismus.
“Die Eisenbahn hat den Raum getötet”, Heine. – Wenn der wüsste.
Bond. Ihren Glanz verdanken die Hotels allein den Filmen: der Lounge, in der schon die Agenten sitzen; dem überlegen knappen „Danke“, mit dem der Held dem Zimmerboy sein Trinkgeld gibt; den Beinen an der Bar, die schimmernd auf uns warten. — Verrückt, wie all das überspielt, dass die Hotels vor allem Krankenhäusern gleichen oder den Fluren im Einwohnermeldeamt.
Body Snatchers. Der Tourist besucht Orte, die dadurch verschwinden. Die Einheimischen arbeiten ihm zu: Ihre Götter verwandeln sie in Trattorien, ihre Philosophen in Reisebüros. Die ausgerotteten Tiere kehren als Schnitzereien zurück, die Traditionen als Kostüm. Der Konsum kriecht näher und näher an die Sights heran, um sie am Ende, wie auch die Einheimischen, zu ersetzen.
Null zu null. Tourismus ist auch ein Wettbewerb, wer wen am meisten benutzt: die Touristen die Einheimischen oder anders herum. Letztere würden Heimvorteil genießen, doch sie tragen ihre Heimat längst wie ein Bauchladen vor sich her.
Off the beaten track. Wir fliehen vor den Must-Sees hinters Festzelt, wo wir die wahre Party vermuten.
Mittelverwendung. Ein Trödler geht mit Kitsch und Kettchen auf eine Familie zu. Der Vater reißt die Kinder vor ihm weg. Dann laufen sie auf ein Piratenschiff mit Neonketten in den Wanten und fahren eine halbe Stunde durch den Hafen und trinken Limonade zu zehn Euro pro Person.
Etwas Kraus. Nichts zu sehen und es zu fotografieren – das macht den Touristen.
Peter was here. Wir reisen zur Hagia Sophia wie zum Mittelpunkt der Bilder, die längst von ihr gemacht wurden. Dort drehen wir ihr, wie im Bann, sofort den Rücken zu, um ein weiteres Bild zu machen.
Haltungssache. Wir fotografieren uns in einer Haltung, die offen lässt, ob die Person die Pose oder die Pose die Person karikiert.
Kleine Lügen. Auf einem guten Selfie ist man mit seiner Sehenswürdigkeit allein, nachdem man oft in langen Schlagen dafür angestanden hat.
Mitbringsel. Früher sollten Fotos uns gegen den Zweifel am eigenen Erlebnis versichern wie das „Blechschild am Spazierstock“ oder der Kühlschrankmagnet. Sie waren Zertifikate. Heute sind sie das Erleben selbst geworden. Wir machen lächelnd Bilder, wie wir lächelnd Bildern von uns machen. Das Erlebte ist der Raum zwischen Linse und Selfieblick.
Späte Lehre. Beim Fotografieren wird tatsächlich die Seele gestohlen — der Person, die fotografiert.
Neues Museum. Trotz zahlreicher Schilder, die das verbieten, versucht ein Tourist, die Nofretete zu fotografieren. Eine Aufseherin fährt ihm dazwischen. — Aber wenn er sie nicht knipsen darf, wie soll er sie dann erleben?
Super Mario. Am Ende jedes Levels wird dem Helden verkündet: Deine Prinzessin ist in einem anderen Schloss. Später lernen wir, warum: Sie läuft vor ihm davon.