Kafkas Urteil endet mit einem kuriosen Protest. Vom Vater bitter abgewiesen will Georg sich das Leben nehmen und läuft auf eine Brücke. Dort wartet er auf dichteren Verkehr, um sein Sterben im Lärm zu verstecken. Dann wirft er sich hinab mit den Worten: „Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt“.
Ein Satz, den niemand hören soll. Nur in einem Wörtchen versteckt sich Widerstand, im „doch“.
„Doch“ ist eine Partikel. Sie ist leicht zu überlesen, aber reich an Bedeutung. Wenn sie fehlen würde, fiele mit dem letzen Satz die Logik der Erzählung zusammen. Dann klänge das so: „Liebe Eltern, ich habe euch immer geliebt“.
Das erinnert an Geigen, Tränen und wehendes Haar. So würde Das Urteil als Seifenoper enden. Die Partikel aber ändert das: Sie führt einen Vorwurf ein. Denn inhaltlich entfaltet lautet die Stelle so: „Liebe Eltern, ich habe euch — anders als ihr denkt, aber wissen solltet — immer geliebt“. Weil Georg überdies seinen Vorwurf versteckt, halb im Wörtchen, halb im Lärm, wird sein Sterben zugleich beklemmend und jämmerlich. Kafka eben.
2022, Alexanderplatz. Ein Plakat fordert uns auf: „Seid doch laut!“. Auch hier ist mit der Partikel eine Vorhaltung eingebaut, auf sprachlich engstem Raum. Seid laut – und zwar anders als ihr es jetzt trotz besseren Wissens und aus unnötiger Zurückhaltung seid.
Partikeln verdichten also einen spezifischen Sinn. Mit ihrer Hilfe geben wir einer Person zu verstehen, dass wir wissen, dass sie etwas weiß, und dass sie entsprechend handeln sollte. So bedeutet die Partikel „doch“: Wie du wissen solltest, aber nicht befolgst.
Ähnlich verhalten sich die anderen Partikeln. Das „halt“ in „Peter ist halt ein Alkoholiker“ bedeutet: Das ist so, wie du auch weißt, da lässt sich nichts machen. In „Ich hab’s dir ja gesagt“ soll das „ja“ betonen, dass wir wissen, dass es der andere weiß, und dass wir denken, er habe das zu wissen. Durch das „eben“ in „Du bist eben nicht mehr der Alte“ wird gesagt: Das ist unumstößlich, wie Du weißt und wissen solltest.
Partikeln sind eine Eigenart des Deutschen und Kafkas Texte nicht aus Zufall voll davon (auch wenn er Österreicher war). In ihnen blüht der Zwang. Das geht in Übersetzungen leicht verloren, wodurch es in der Umkehr noch deutlicher wird. „Nonetheless“, die geläufige Übersetzung für „doch“, kommt zwar der richtigen Bedeutung nahe: „My dear parents, I have always loved you nonetheless“. Aber das Wort ist zu lang, zu augenfällig und ihm fehlt der wesentliche Vorwurf an die Eltern, sich geirrt zu haben.
(Überhaupt, wie könnte man „Ich bin doch noch so jung!“ ins Englische übersetzen, ohne diese traurigleise Verzweiflung zu verlieren, die durch den Widerstand des „doch“ getragen wird?)
Bei Kafka wird am Einzelfall deutlich, was grundsätzlich in den Partikeln steckt: der Kern der deutschen Seele. Für Deutsche ist die stark betonte Erwartung typisch, mit bestimmten Regeln vertraut und längst an ihnen ausgerichtet zu sein. Dieses Denken ist in alles Deutsche eingewachsen, wie Nägel in zu kleinen Schuhen. Alle Akten und Aushänge und Busfahrerreaktionen weisen uns darauf hin: Du hast diese Regeln zu kennen.
Das hat sich bis hinab ins Wörtchen verdichtet und lenkt unser Denken von da. Man hat’s uns ja gesagt. Oder doch, oder eben oder halt. Die deutsche Welt ist ein Ermahnungstheater. Die Italiener haben Sätze zu Gesten ausgebaut, wir Deutschen eine Geste, das Zeigefingern, in ein Wort. Das gilt uns immer. Wir sollen wissen: Seid vorab informiert und brav. Wir sind Forderungen füreinander und wie ein Winter, auf den wir tunlichst vorbereitet sind.