Über ikonische Filme
Über ikonische Filme
Es gibt Filme, die lassen sich nicht bewerten. Sie sind der Punkt, von dem aus wir alle anderen sehen. Jeder Film, der später kam, weiß von ihnen. Wir schauen sie mit der gleichen, durch nichts zu beruhigenden Verwunderung, mit der wir in Paris vor dem Urmeter stehen.
Man könnte diese Filme „ikonisch“ nennen. Wir können sie nicht eigentlich sehen – sie haben sich uns eingemessen. So zeigt die Szene, in der Indiana Jones vor der Steinkugel flieht, nicht einfach, wie irgend jemand flieht. Sie hat dieses Fliehen geprägt. Sogar das kurze Stolpern des Helden wirkt nicht wie irgend ein Versehen. Es ist Teil der Regel, die beschreibt, wie im Film davonzulaufen ist. Die Szene ist ein normatives Bild.
Zwar steht Raiders of the Lost Ark selbst in einer langen (oft wenig schmeichelhaften) Tradition und das recht offenkundig. Doch hat er diese, wie Der Pate alte Gangster-Filme, so umfassend in sich aufgenommen und szenisch konzentriert, dass er sie gleichsam rückwirkend prägt: Der spätere Film lebt als das geheime Ziel in allen früheren und überschreibt sie total.
Für Cineasten ist es unmöglich, Filme wie Nosferatu, Casablanca oder 2001 zum ersten Mal zu sehen, auch wenn es faktisch das erste Mal wäre. Wir haben sie schon immer als Kraft- und Ausgangspunkte anderer Filme gespürt. Sie waren uns längst bekannt als Echos, Parodien und Selbstverständlichkeiten.
Und dennoch. Einmal dürfte es ein kleines Fenster gegeben haben, in dem wir jung genug waren, diese Filme nicht zu spüren, und alt genug, um urteilsfähig zu sein. Dort könnte es zu etwas überaus Seltenem, von uns kaum Wahrgenommenen gekommen sein: Wir haben den Augenblick der Prägung unmittelbar erlebt. Wir haben da, was eigentlich unmöglich ist, den Maßstab selbst erfahren, so wie man sonst nur das erfahren kann, was unter ihn fällt.*
Aber diese Episoden passieren uns, wenn überhaupt, zu früh oder sind zu fein, als dass wir sie wirklich erleben können. Viel bewusster nehmen wir bei anderen, bei Bekannten, Freunden und Partnern, wahr, wenn sie selbst in diesem Fenster stehen. Dann wollen wir, wenn sie zum ersten Mal einen Urmeter sehen (was wir oft selber angestoßen haben), daneben sitzen und Zeugen ihres Ein-Sehens sein. Dann sind wir nervöser als sie mit unserem nur leicht versteckten Verlangen, eine Unschuld unendlich zärtlich zerbrechen zu sehen.
* Es ist nicht einfach, ein Wort für diese seltenen, widersprüchlichen Erkenntnisepisoden zu finden. Vielleicht könnte man sie „heimatliches Denken“ nennen, in dem Sinne, dass sie einen Maßstab stiften, der nicht zu trennen ist von der spezifischen Erfahrung, die ihn erzeugt hat. Oder vielleicht nennen wir sie einfach „Urmeter“. Sie sind übrigens viel stärker jenseits des Films. Ich habe eine Erinnerung, in der ich auf einem Feldweg stehe genau in dem Moment, als diese Szene für mich zum Inbegriff wird für das, was ein Feldweg ist.
Bild: Cheney, Clyde L.: Bull Whip, 1937
Wiki Commons